Preisträger: Start a Revolution: Get to know your Neighbour!

Im Sommer 2019 eröffnete das Mikropol, ein Stadtteilzentrum im Taschenformat, ein initialer Testort und ein bauliches Argument dafür, dass das Miteinander in Rothenburgsort viel mehr Platz braucht. Mit seinem Programm „Start a Revolution: Get to know your Neighbour!“ gewinnt das Mikropol den Hamburger Stadtteilkulturpreis 2022.

Autor*in: Mikropol

Ausstellungseröffnung „Lactoland“ von Clara Alisch, Foto: Miguel Ferraz Araujo

Samowarrevolution

Es ist Samstag. März 2017. Auf dem Marktplatz des Hamburger Stadtteils Rothenburgsort herrscht das übliche Treiben: Menschen stehen in langer Schlange und warten darauf, ihre Brötchen- und Kuchenbestellung aufgeben zu können, ein paar Leute ­klönen bei Bratwurst und Kaffee, andere kaufen Obst, Gemüse, Blumen oder Käse. Doch etwas ist anders. Zwischen den Markständen sitzt eine Gruppe von Nachbar*innen an einem hölzer-nen Couchtisch. Manche sitzen auf orangenen Plastikstühlen, andere auf der Mauer, die den Marktplatz säumt und von den parkenden Autos abschirmt. Auf einem antiken Teewagen steht ein batteriebetriebener Plattenspieler. Blechern tönt Supertramp aus den integrierten Boxen: „Dreamer, you know you are a dreamer …“. Auf der Mauer produziert ein mit Holzkohle befeuerter Samowar qualmend und leise blubbernd Schwarztee. Geviertelte Zitronen liegen auf einem silbernen Blech, werden in den Tee gepresst. Die Menschen um den Tisch unterhalten sich angeregt. Sprechen entsetzt über das, was passiert ist und träumen gleichzeitig hoffnungsvoll von der Zukunft. Was passiert ist? Die RothenBurg, das Stadtteilzentrum von Rothenburgsort und Heimat unterschiedlichster Gruppen und Angebote ist geschlossen worden und soll ersatzlos abgerissen werden. Die Möbel hat die Gruppe – später als Mikropol bekannt – aus dem ehemaligen „Stadtteilwohnzimmer“, einem Raum der RothenBurg, gerettet und sie kurzerhand auf dem Marktplatz aufgebaut.

Löcher der Stadt: Situiert euch!

Weltweit gewinnen Städte mehr und mehr an Bedeutung. Seit 2007 leben erstmals mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Während im Jahr 1950 nur etwa ein Drittel der Weltbevölkerung in den Städten lebte werden es nach Hochrechnungen der UN im Jahr 2050 etwa zwei Drittel sein. Damit lastet ein enormer Druck auf den Städten. Die Metropole, einst „Fabrik zur Produktion des Gemeinsamen“(1), verkommt allmählich zur Utopie. Das Versprechen der Stadt als Ort der Unterschiedlichkeit, als Möglichkeitsraum, als Treffpunkt oder als Schmiede „von Ideen, Innovation und Beziehungen“(2) gerät ins Wanken. Der Wohnraum wird knapp und die Mieten steigen. Besonders jene Menschen mit wenig Einkommen werden an den Stadtrand gedrängt. Öffentliche Räume wandeln sich zu Konsumorten. Plätze und Nischen, die politisches oder kulturelles Handeln ermöglichen könnten, werden aufgelöst und müssen privatisierten, regulierten und optimierten Strukturen weichen. Massive „Privatisierungen […] sowie die Zunahme räumlicher Kontrolle und Überwachung“ wirken sich aus auf die „allgemeine Lebensqualität in den Städten und insbesondere auf die Möglichkeit, neue Formen von sozialen Beziehungen (eine neue Allmende) innerhalb eines urbanen Prozesses zu etablieren“(3). Subtil zeichnen sich diese Entwicklungen in tausenden Wohnvierteln entlang der Zentren großer Städte ab.

Rothenburgsort ist dafür ein gutes Beispiel. Mit seiner innerstädtischen Lage lastet auf dem Stadtteil ein besonders hoher Druck, er gerät mehr und mehr in den Fokus der Stadtplanung und in den Wirbel zahlreicher Stadtentwicklungsstrategien. Öffentliche Beteiligung wird hier stets auf Sparflamme betrieben. Wie vielerorts verbleibt sie auf der Stufe der Information und dient lediglich der Akzeptanzbeschaffung. Der ersatzlose Abriss der RothenBurg war ein vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung. Dem (wachsenden) Stadtteil wurde damit ein wichtiger Ort genommen, an dem sich Bewohner*innen austauschen und treffen können; ein Ort, der von Nutzer*innen des Stadtteils erstritten wurde, um sich selbst zu organisieren. Ein Umstand, den die eingangs beschriebene Versammlung anklagt und zu verändern beginnt.

Konflikte verräumlichen. Planung braucht einen Ort.

Foto: Mikropol e.V.

Aus den Versammlungen auf dem Marktplatz erwuchs die Idee, nicht nur ein neues Stadtteilzentrum zu fordern, sondern dies auch gemeinsam zu entwickeln. Dafür brauchte es einen Ort. Einen Ort der den Wegfall der RothenBurg auffängt und gleichzeitig die Planung eines zukünftigen Stadtteilzentrums verräumlicht. Ein seit längerem leerstehendes, etwa 50 Quadratmeter großes ehemaliges Toilettenhäuschen – ein Backsteingebäude mitten auf einer Verkehrsinsel – schien ideal dafür. Obwohl die Verhandlungen um das Gebäude noch in vollem Gange waren, schuf die Gruppe über ein Jahr hinweg immer wieder Situationen auf der Verkehrsinsel, die das Projekt im Stadtteil sichtbar machten und verankerten, bevor es den Raum wirklich gab. Sie hielt Versammlungen auf dutzenden Gartenstühlen ab, lud zum Grillen, organisierte ein Bouleturnier, Stadtteilrundgänge oder einen Glühweinabend. Ein Slogan, der immer wieder aufklang: „Wenn wir uns mögen, drehen die durch!“(4)

Im Sommer 2019 öffnete das Mikropol dann in gewohnter ­Manier – mit einem Fest – zum ersten Mal sein gelbes Rolltor für die Nachbarschaft. Umgebaut von Nachbar*innen, Freund*innen und Komplizinnen. Mit geringem Budget (aus einem Kunstfonds und anderen kleinen Förderungen), dafür aber mit viel ehrenamtlichem Engagement und Kooperationen im Stadtteil. Seither ist das Mikropol ein offener Raum, der allen Nachbar*innen und Interessierten unentgeltlich zur Verfügung steht und gleichzeitig erprobt, wie ein zukünftiges Stadtteilzentrum in Rothenburgsort aussehen und organisiert sein kann. Es ist Stadtteilzentrum, Testort und bauliches Argument in einem.

Das Angebot von Nachbar*innen für Nachbar*innen wächst stetig und reicht von der Teetafel über Konzerte, Diskussionsveranstaltungen und Ausstellungen, bis hin zu Chorproben, Radioshows, gemeinsamem Gärtnern und einer Umsonst­boutique. Das Mikropol bietet dabei primär die räumliche Struktur, die Angebote werden neben den Betreiber*innen des Mikropols auch von seinen Nutzer*innen selbst gestaltet. So hat sich das Mikropol trotz der Corona-Pandemie zu einem wichtigen Ort im Stadtteil entwickelt. Neben dem Programm von Nachbar*innen für Nachbar*innen konstruiert das kuratorische Team weiterhin Situationen und lädt zu Veranstaltungen ein. Zum gemeinsamen Sticken einer neuen Fassade, zum Unkraut sammeln und Tee daraus kochen, zum Spazieren durch die Nachbarschaft oder zu Ausstellungen und Performances. Das Team ordnet die Tätigkeiten in und um das Mikropol dabei stets in stadtpolitische Diskurse ein. Denn das Ziel ist weiterhin, die Entwicklung eines neuen, großen Stadtteilzentrums für und vor allem gemeinsam mit den Bewohner*innen des Stadtteils.

Keine Zeit zu Warten! Start a Revolution: Get to know your Neighbour!

(1) Hardt, Michael/Negri, Antonio: Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurt am Main: Campus 2010, S. 263
(2) Schäfer, Christoph: Vorwort. In: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt. Hamburg: Nautilus Flugschrift 2016, S. 9
(3) Harvey, David: Rebellische Städte. Berlin: Suhrkamp Verlag, 4. Auflage 2016, S. 127
(4) Vgl. Czenki, Margit: Komplizinnen. 1987

KONTAKT
Mikropol e.V.
Verkehrsinsel Billhorner Mühlenweg/Billhorner Röhrendamm · 20539 Hamburg
· www.mikropol.de